Rede von Dr. Sebastian Kranich (Stadtvorsitzender BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zum Tag der „Erinnerung, Mahnung und Begegnung“ am 14. September 2014 auf dem Gertraudenfriedhof Halle (Saale). [> PDF]
Sehr geehrter Herr Manfred Humprecht, sehr geehrter Herr Sozialdezernent Tobias Kogge, sehr geehrte, liebe Bundestagsabgeordnete Petra Sitte und Karamba Diaby, liebe Gisela Döring; sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitkämpfer gegen Nazi-Ideologie, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.
Dieser Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung steht unter einem besonderen Vorzeichen. Wenn wir heute der Verfolgten und Opfer des Naziregimes gedenken, rückt eine Gruppe von Menschen in den Vordergrund, die lange – viel zu lange – auf die Würdigung, ja überhaupt auf die Wahrnehmung, ihres Leidensweges warten musste.
Die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma rückten erst in den 1980er und 1990er Jahren langsam in das öffentliche Bewusstsein. Zwar wurde 2012 ein vom israelischen Künstler Dani Karavan geschaffenes, eindrucksvolles Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in der Nähe des Reichstags eingeweiht. Doch im öffentlichen Bewusstsein ist es noch immer nicht wirklich verankert, was Deutsche diesen Menschen angetan haben.
Anderer Opfer des Nationalsozialismus ist eher gedacht worden. Das Gedenken an ermordete Kommunisten und Arbeiter gehörte in der DDR zur Staatsräson. Im Westen erinnerte man besonders an die Männer des 20. Juli, auch wenn dazu nach 1945 einige Jahre vergehen mussten. Am 10. November 1988, damals war ich gerade 19 Jahre alt, fand schließlich die symbolische Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Ruine der neuen Synagoge Berlin statt.
Als gebürtigem Dresdner ist mir die Einweihung einer Gedenktafel in der Dresdner Kreuzkirche am Tag zuvor im Gedächtnis. Sie wurde anlässlich des 50ten Jahrestags der Reichspogromnacht angebracht. Auf ihr steht zu lesen:
„In Scham und Trauer gedenken Christen der jüdischen Bürger dieser Stadt. 1933 lebten in Dresden 4675 Juden. 1945 waren es 70. Wir schwiegen, als ihre Gotteshäuser verbrannt, als Juden entrechtet, vertrieben, ermordet wurden. Wir erkannten in ihnen unsere Brüder und Schwestern nicht. Wir bitten um Vergebung und Schalom.“
Antisemitismus ist in Deutschland noch immer ein Problem. Heute Nachmittag wird in Berlin gegen Antisemitismus demonstriert. Dass Bundeskanzlerin und Bundespräsident dafür ihre Teilnahme zugesagt haben ist sehr, sehr gut – und es ist fast eine Selbstverständlichkeit. Doch was ist mit den Sinti und Roma? Wäre eine solch große Demonstration gegen Antiziganismus bei uns denkbar? Wenn nicht – warum ist das so?
Ein persönlicher Erklärungsversuch: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Genozid an Sinti und Roma in meiner Jugend ein großes Thema gewesen wäre. Weder in der Schule, noch in der Kirche. Dabei fiel dem Porrajmos – zu deutsch: „dem Verschlingen“ – eine sechsstellige Zahl von Angehörigen dieser Volksgruppe zum Opfer. Und die deutschen Sinti und Roma, die damals in die Vernichtungslager geschickt wurden, waren fast alle Christen, ganz überwiegend katholische. Doch aus den Kirchen kam seinerzeit fast kein Protest dagegen. Nur einzelne leisteten Widerstand und halfen den Verfolgten.
Ich weiß nicht, wann Sie, wann ihr, erstmals intensiver mit dem Leiden der Roma konfrontiert wurdet. Bei mir geschah dies erst 1993 auf dem Evangelischen Kirchentag in München, in einer Diskussionsveranstaltung mit Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats deutscher Sinti und Roma.
Im Sommer 2014 – fast genau siebzig Jahre nach der endgültigen Liquidierung des sogenannten „Zigeunerlagers“ in Auschwitz am 2. und 3. August 1944 – fingen in unserer Stadt Einzelne an, auf Facebook in ganz übler Weise gegen Roma zu hetzen. Auch rassistische Schmierereien tauchten in der Silberhöhe auf. Romani Rose verlangte daraufhin in einem dringenden Appell an den Innenminister von Sachsen – Anhalt, „dem Wiederaufleben der Rassenpropaganda gegen eine Minderheit, die im Nationalsozialismus Opfer des Holocaust wurde, in seinen Anfängen entgegenzutreten.“
Ich zitiere nur einige Statements aus der im Juli aufgetauchten Facebook-Gruppe, mit deren Inhalten sich jetzt die Staatsanwaltschaft zu beschäftigen hat. Ich tue dies heute und an diesem Ort, auch wenn es sehr schwer auszuhalten ist, so etwas zu hören. Aber es gehört nun einmal zu unserer Realität. Meine Quelle ist ein Bericht des Hallespektrum.
Ein User schrieb: „Weg mit den viehzeug“. Ein anderer, der sich auf seinem Facebook-Profil mit der schwarz-weiß-roten Flagge des Deutschen Reichs präsentierte, erklärte: „sehr jut, schützt unser silberhöhe und noch wichtiger unsere kinder.“ In einem weiteren Kommentar fabulierte er von „gutmensch scheiss politik“, und weiter: „die sollten mal überlegen die tore zu schliessen sonst werden wir hier noch völlig unterwandert.“
Ein User meinte „wie kann man so ein volk hier ansiedeln?“ Seine Partnerin erklärte: “Ohh man die solln uns bloß in ruhe lassen. Was wollen die hier? Es gibt tausend andere Städte und ausgerechnet nach Halle kommen sie. Sie werden uns alles versauen.“ Ein anderer User antwortet ihr daraufhin: „Das haben wir der Übermacht von Linken und Grünen im Landtag und Stadtrat zu verdanken.“
Weitere Zitate: „Raus mit dem maden“ / „Dreckspack diese Roma“ / „Wozu haben wir große Container…sofort dieses Volk entsorgen und auf die Mülllhalde.“
Siebzig Jahre zuvor: Am 2. August 1944 um 19 Uhr wurde das sogenannte. „Zigeunerlager“ in Auschwitz abgeriegelt. Nach einer Liste hatten dort auch 110 Roma aus Halle gelebt. 1408 Häftlinge wurden mit dem Güterzug ins KZ Buchenwald verlegt. Die verbliebenen 2897 Frauen, Männer und Kinder wurden in den Gaskammern getötet. Der Lagerleiter hatte sich krankgemeldet. So brachte ein SS-Unterscharführer die Menschen zu den Gaskammern. Dort wurden sie in Gruppen ermordet. Am Morgen des 3. August 1944 wurden jene, die sich zunächst im Lager verbergen konnten, von SS-Angehörigen erschlagen oder erschossen.
Drei Augenzeugenberichte:
Menashe Lorinczi (Häftling aus Mengeles Zwillingsgruppe): „Wir hörten ein furchtbares Geschrei. Die Zigeuner wussten, dass sie in den Tod geschickt werden sollten, und sie schrien die ganze Nacht. Sie waren lange in Auschwitz gewesen. Sie hatten gesehen, wie die Juden an der Rampe ankamen, hatten Selektionen gesehen und zugeschaut, wie alte Leute und Kinder in die Gaskammer gingen. Und darum schrien sie.“
Rudolf Höss (Kommandant in Auschwitz): „Erst als sie barackenweise nach dem Krematorium wanderten, merkten sie es. Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen.“
Elisabeth Guttenberger (Häftling des „Zigeunerlagers“): „Die Sinti haben sich auch gegen die „Liquidierung“ des „Zigeunerlagers“ zur Wehr gesetzt. Das war eine ganz tragische Geschichte. Da haben die Sinti aus Blech Waffen gemacht. Sie haben die Bleche zugespitzt zu Messern. Damit und mit Stöcken haben sie sich bis zum Äußersten gewehrt.“ Dieser Widerstand wurde mit Maschinenpistolen niedergeschossen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen, wie es euch mit dieser Gegenüberstellung geht. Mich erschreckt und erschüttert zutiefst, wie heute in Hetzparolen wieder zum Vorschein kommt, was damals grausame Folgen hatte. Romani Rose hat darauf zu Recht aufmerksam gemacht. Doch hilft es nicht, bei diesem Erschrecken stehen zu bleiben. Warum hetzen Menschen denn so extrem gegen Sinti und Roma? Das müssen wir wissen, wenn wir politisch dagegen angehen wollen.
Schnell als Gründe ausgemacht sind menschliche Dummheit, sicher auch Hass und Frust. Aber diese Ursachen erklären nicht, warum nach einer aktuellen Studie ausgerechnet Sinti und Roma bei Deutschen auf mehr Ablehnung und Vorbehalte stoßen als jede andere Minderheit im Land:
Fast jeder Dritte will sie lieber nicht als direkte Nachbarn haben. Jeder Zweite denkt, dass Angehörige dieser Gruppe durch ihr Verhalten Feindseligkeit in der Bevölkerung hervorrufen. Zudem glaubt jeder Zweite, dass deren Einreise beschränkt werden sollte.
Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nennt die Ergebnisse der Studie dramatisch: „Gleichgültigkeit, Unwissenheit und Ablehnung bilden zusammen eine fatale Mischung, die Diskriminierungen gegenüber Sinti und Roma den Boden bereiten.“
Wir in Deutschland wissen zu wenig, oder wir wissen das Falsche über Sinti und Roma. Bei uns in Halle sind die Vorstellungen vielfach von den bettelnden Menschen auf dem Boulevard, dem Marktplatz oder rings um die Marktkirche geprägt. Dass es in Deutschland auch 70.000 völlig in unseren Alltag integrierte Roma und Sinti gibt, wird z. B. nicht einmal wahrgenommen.
Die Vorurteile gegenüber dieser Gruppe, die sich durch alle Bevölkerungsschichten ziehen, sind freilich noch tiefer verankert. Es handelt sich hier um tiefsitzende Vorstellungen und kulturelle Muster, die bis ins Mittelalter zurückreichen.
Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms schildert deren Entstehung und Weitervermittlung in einem lesenswerten Vortrag. Ich greife im Folgenden darauf zurück und zitiere daraus:
Das Volk der Roma ist in mehreren Gruppen von Indien nach Europa gezogen. Die Sinti, eine Untergruppe der Roma, haben etwa hundert Jahre in Griechenland gelebt und dort den christlichen Glauben angenommen. Als die osmanischen Türken das byzantinische Reich eroberten, sind sie auf verschiedenen Wegen nach Deutschland gekommen.
Obwohl sie Christen waren, wurden sie, vermutlich wegen ihres fremdartigen Aussehens, im Volk „Heiden“ genannt und in späteren Chroniken als „religionslos“ bezeichnet. Mehrere dieser Chroniken belegen, dass die als „schwarz“ beschriebene Hautfarbe mit Unglauben oder Heidentum verbunden wurde. Man war überzeugt, dass die Zigeuner, die auch Ägypter (engl. gypsies) und Pharaonen genannt wurden, aus Ägypten stammen, „wo Hellseherei und Zauberei allgemein üblich sind“.
Auf dem Freiburger Reichstag von 1498 wurden die Sinti als Spione der Türken verurteilt und zwei Jahre später für „vogelfrei“ erklärt. Mit der Reformation verbesserte sich die Einstellung gegenüber den „Zigeunern“ nicht.
Martin Luther wandte sich zwar nicht direkt gegen die „Zigeuner“. Aber er benutzte sie wiederholt für Vergleiche, wenn er über fahrende Bettler schrieb. Im Vorwort zu dem Buch „Von der falschen Bettelbüberey“ verurteilte er die Fahrenden, die betteln, statt zu arbeiten, pauschal als Spitzbuben, die lügen und betrügen.
In seiner Schrift „Von Ehesachen“ warf er den Fahrenden vor, sie „verfahren mit der Ehe wie die Zigeuner, die ständig Hochzeit und Taufe halten, wo sie hinkommen“.
Dieser Vorwurf kehrt sowohl in „Zigeuner“-Traktaten als auch in der Belletristik sowie in Lexikon-Artikeln wieder. Romantisch-verklärend heißt es später: „Lustig ist das Zigeunerleben.“
In Folge der auf den Reichstagen beschlossenen Ausgrenzung und Vertreibung wurden – sowohl in gelehrten Schriften als auch in Volkslegenden – Geschichten verbreitet, die sich zur Rechtfertigung der Vertreibung eigneten:
Die so genannten „Zigeuner“, seien erstens Nachkommen von Kain, der Abel erschlagen hatte. Sie seien zweitens die Leibwächter des Königs Pharao gewesen und am Ufer zurückgeblieben, als Pharao den Juden in das sich öffnende Rote Meer nachsetzte. Drittens hätten sie der Heiligen Familie bei ihrer Flucht nach Ägypten das Nachtquartier verweigert. Und viertens hätten sie die Kreuznägel Christi geschmiedet.
Die Moral dieser vier Geschichten ist stets dieselbe. Gott hätte sie zur Strafe in alle Welt zerstreut und zu ewiger Wanderschaft verdammt. Wer die „Zigeuner“ vertreibt, so die Nutzanwendung dieser Moral, verrichtet das Werk Gottes.
Auch in der Aufklärung ging es den Siniti und Roma nicht viel besser. Der Aufklärer Heinrich Grellmann etwa war für die Erziehung von „Zigeunern“ mit dem Ziel, dass sie nach zwei oder drei Generationen „aufgehört“ haben, „Zigeuner zu seyn“, und „zu brauchbaren Bürgern umgeschaffen sind“. Ich beende hier diesen Rückblick in die Historie und empfehle den Vortrag von Solms – „Sie sind zwar getauft, aber…“ Die Stellung der Kirchen zu den Sinti und Roma in Deutschland – zur eigenen Lektüre. Er ist im Internet verfügbar.
Natürlich ist sich das Drittel der Deutschen, das Roma als Nachbarn ablehnt; natürlich ist die Hälfte der Deutschen, die deren Einreise einschränken will, sich über die lange Geschichte ihrer Vorurteile nicht im Klaren. Und die Facebook-Hetzer wollen so etwas höchstwahrscheinlich auch gar nicht wissen.
Umso schlimmer ist es, wenn Politiker auf der Welle des Antiziganismus reiten. Die Parole „Wer betrügt, der fliegt“ zielt genau auf solche Vorurteile ab. Stark macht man mit solchen Sprüchen nur den rechten Rand in unserer Gesellschaft.
Vor allem ist es schlimm, wenn die Diskriminierung der Roma in Süd- und Südosteuropa und anderswo klein- und weggeredet wird. Und es nicht nur schlimm, sondern ein Skandal angesichts deutscher Verbrechen an dieser Menschengruppe.
Wir haben eine besondere Verantwortung auch den Sinti und Roma gegenüber.
Wir als Stadtgesellschaft in Halle müssen vor Ort jegliche antiziganistische Hetze klipp und klar zurückweisen. Wenn Heranwachsende eine Roma-Mutter mit ihrem Zweijährigen Kind attackieren, ist das Folge einer Stimmung, die gemacht wird.
Wir müssen klarmachen: Diese Menschen haben ein Recht darauf, hier zu sein. In der Europäischen Union herrscht Freizügigkeit.
Wir müssen klarmachen: Konflikte im Alltag gilt es zivilisiert anzugehen und zu lösen.
Roma ist ein Plural. In der Einzahl heißt „Rom“ Mann oder Mensch. Hier liegt unsere gemeinsame Basis. Dani Karavan, der Schöpfer des Berliner Denkmals, sagte in einem Interview über dessen Gestaltung: „Ich wählte die Kreisform. Sie soll ein Gefühl der Gleichheit erzeugen. Ich weiß, dass Sinti und Roma gern in Kreisen zusammensitzen.“
Hoffen wir auch in Halle auf einen menschlichen Umgang miteinander. Und tun wir etwas dafür. Das sind wir den Sinti und Roma – und auch uns selbst – schuldig.
Rede hier zum Download als PDF.