Seit Wochen gehen die Bilder von Demonstranten, die sich mutig gegen selbstherrlich regierende Diktatoren im arabischen Raum auflehnen, um die Welt. In vielen Ländern zieht es die Menschenmassen auf die Straßen, wo sie unter Gefährdung des eigenen Lebens für ihre Träume von Wohlstand, Gerechtigkeit und Demokratie eintreten. Was bei zahlreichen Beobachtern Optimismus und die Hoffnung auf eine muslimische Demokratisierungswelle hervorruft, schürt jedoch an anderer Stelle Ängste vor Islamisierung und Flüchtlingsströmen.
Dieser Konflikt und die entsprechend unscharfe Haltung des Westens bildete die Grundlage für eine von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Halle (Saale) in Zusammenarbeit mit der Grünen Hochschulgruppe organisierten Diskussionsveranstaltung mit dem grünen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir. Rund 70 Besucher fanden sich dazu am Mittwoch, dem 03. März 2011, in den Räumlichkeiten der Martin-Luther-Universität Halle ein und lauschten den Ausführungen Özdemirs zur Fragestellung „Ohnmacht des Westens?“, ehe sich eine angeregte Diskussion unter der Leitung der grünen Spitzenkandidatin zur Landtagswahl, Prof. Claudia Dalbert, entwickelte.
Angesichts des bisherigen Verhaltens der westlichen Staaten fand Özdemir dabei klare Worte: Die zögerliche Reaktion der EU und die Fokussierung der öffentlichen Debatte auf Maßnahmen zur Abwehr von Flüchtlingen sei schlichtweg beschämend und absolut unangemessen. Die Revolutionen in der arabischen Welt müssten viel stärker als Chance, denn als Bedrohung begriffen werden. Entsprechend sei nun entschiedenes Handeln gefordert um den Grundstein für die Entwicklung stabiler Demokratien zu legen. Auf dem Spiel stünde dabei letztlich nicht weniger, als die Glaubwürdigkeit des Westens: Der Verzicht auf umfangreiche Hilfsleistungen würde zu Frustration und zur nachhaltigen Abkehr der momentan noch so hoffnungsfroh aufstrebenden Kräfte vom westlichen Vorbild führen. Konkret auf Deutschland bezogen nannte Özdemir neben der Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen, die Abschaffung der Exportsubventionen und die gezielte Öffnung der Märkte für Produkte aus im Wandel befindlichen Ländern als mögliche Maßnahmen, um den Prozess der Demokratisierung mit einem gezielten wirtschaftlichen Aufschwung zu verknüpfen.
Im Zusammenhang mit den politischen Umwälzungen in der arabischen Welt verwies Özdemir auch auf den wichtigen Status der Türkei: So könnte man durch die Intensivierung der Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei den Reformprozess im Land selbst stützen und würde gleichzeitig die Rolle der Türkei als Vorbild für andere muslimische Länder stärken. Die Grundlage für die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen sei jedoch zunächst eine vernunftgeleitete Debatte, die in Deutschland nachwievor durch eine ungenügende und emotional aufgeladene Integrationspolitik erschwert werde. Mit Nachdruck forderte Özdemir daher stärkere politische Bemühungen im Umgang mit Migranten und warnte davor diese wie bisher weitestgehend mit ihren Bedürfnissen allein zu lassen. Dafür sei es freilich notwendig bestehende Vorurteile zu überwinden, sowie die Probleme von Einwanderern besser zu verstehen und nicht allein auf ihren Migrationshintergrund zurückzuführen. Man müsse endlich damit aufhören stets von „den“ Türken oder „den“ Muslimen zu sprechen, sondern jeden Migranten als einzelnen Menschen mit seinen jeweils individuellen Problemen und Sorgen begreifen, wenn man tatsächlich an einer nachhaltigen Integration interessiert sei, forderte Özdemir in seinem Schlusswort.
In den Wortmeldungen der anschließenden Diskussions- und Fragerunde machte sich ebenfalls deutliche Kritik am bisherigen Verhalten des Westens breit. Besonders bemängelt wurde das zurückhaltende Agieren der EU, das von Özdemir entscheidend, und vom Publikum mit reichlich Applaus unterstützt, auf das Fehlen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zurückgeführt wurde. Auch auf Fragen zum Umgang mit nachwievor bestehenden Diktaturen wusste der Bundesvorsitzende der Grünen zu reagieren: Es ließe sich sicher nicht vermeiden auch den Kontakt zu undemokratischen Staatschefs zu pflegen, doch dürfe man dabei nicht davor zurückschrecken unbequeme Fragen zu Demokratie und Menschenrechten zu stellen und müsse sich, nicht zuletzt auch durch gezielte Arbeit im Untergrund, für oppositionelle Kräfte stark machen.
So blieb am Ende des Abends nur eine Frage zurück, auf die selbst Özdemir keine Antwort geben konnte und die das Publikum noch über die Veranstaltung hinaus beschäftigt haben dürfte: Hat Europa etwas aus den raschen politischen Veränderungen in der arabischen Welt gelernt? Ist in Zukunft vielleicht gar mit einem entschiedenerem europäischen Handeln zu rechnen? Kann die derzeitige „Ohnmacht“ des Westens überwunden werden? Die Antworten auf diese Fragen kann wohl nur die Zeit liefern.
Philipp Weinhold